Anzeichen für meine Myasthenie

Wenn ich von meiner Erkrankung erzähle, werde ich oft gefragt, ob ich denn nichts vorher gemerkt habe.

Während vieler Tage und Nächte auf Intensivstationen und Stationen von Krankenhäusern, nach vielen grüblerischen Stunden unter der Maske der Beatmungsmaschine sind mir viele Situationen eingefallen, an denen diese Krankheit ihren Beginn genommen haben könnte.

Ich schreibe bewusst im Konjunktiv, da ich selbst nicht genau weiß, wie lange ich von der Myasthenie schon betroffen bin.

Erste Erinnerungen kommen auf, als ich in die Schule kam, Ich erkannte das Geschriebene an der Tafel nicht, weil sich Doppelbilder bildeten. Daraufhin bekam ich eine Korrekturbrille, die ich bis heute trage. Hier könnte der Anfang sein, aber – in meiner Familie tragen alle eine Brille. Ich und auch der Augenarzt sahen 1970 sicher nichts Besonderes darin.

Weitere Erinnerungen an die Schulzeit kommen auf. Ich war immer sehr sportlich, konnte aber Übungen, die die Bauchmuskulatur benötigten, einfach nicht durchführen. Wer es noch weiß, für das Sportabzeichen musste man an der Sprossenwand hängend, die Beine im rechten Winkel anheben. Ich hatte keine Chance und habe mich immer gewundert, wie das die anderen Kinder machten. Bei mir bewegte sich gar nichts, nur der Rücken versteifte sich bei meinen kläglichen Versuchen. Ähnlich erging es mir mit dem Hüftaufschwung am Stufenbarren. Ich war todunglücklich und versuchte diese Totalausfälle, meist mit einer 5 bewertet, durch Willenskraft und Energie zu kompensieren. Ich spielte in der Handballmannschaft, war sehr in der Kreisliga aktiv, stand im Tor, hatte gute Reflexe und vergaß bald diese kleinen Vorfälle.

Des Weiteren erinnere ich mich, dass ich bei Spaziergängen und längeren Wanderungen schnell ermüdete, meine Beine oft schwer wie Blei waren, in der Nacht danach schmerzten und ich mir deshalb oft den Hohn und Spott meiner Brüder und meines Vaters zuzog.

Soweit die frühen Erinnerungen.

Doppelbilder begleiten mich wohl schon seit meiner frühen Kindheit, durch die Brille immer ausgeregelt und nichts anders vermutend.

Mit 19 Jahren wollte ich Blutspenderin werden, nach dem ersten Bluttest wiegelte die Ärztin ab und meinte, dass ich dazu ungeeignet sei. Ich fragte 1982 nicht weiter nach, warum.

Ich hatte einen Blinddarmdurchbruch, meine erste OP stand an, die verlief nicht ohne Komplikationen, ich kann wohl froh sein, dass ich wieder aufgewacht bin. Auch danach gestaltete sich die Wundheilung der übergroßen OP-Narbe langwierig.

Ich war 21 Jahre alt, als ich mein erstes Kind in der achten Schwangerschaftswoche verlor. Die ärztliche Begründung war, dass es aus immunologischen Gründen eine Abstoßungsreaktion gegeben hätte.

Als ich 24 Jahre alt war, wurde mein Sohn geboren, nach einer Spontangeburt mit normalen Werten für ihn, kam es einige Stunden zu einer dramatischen Verschlechterung seines Zustandes derart, dass er über 30 Minuten beatmet werden musste, was ihn in seiner Entwicklung sehr verzögerte. Kein Arzt in Berlin konnte oder wollte uns 1989 den medizinischen Vorfall erklären.

Erst 2009 beim Lesen des Buches „Myasthenia gravis“ fand ich eine mögliche Erklärung für diesen ungewöhnlichen Vorfall.

Da stand geschrieben: “Zu einer gegebenenfalls lebensbedrohlichen neonatalen Myasthenie kommt es bei zirka 15 % der Neugeborenen myasthener Mütter. Diese entwickelt sich innerhalb der ersten 72 Stunden nach Entbindung.“

1989 – nach der Geburt meiner Tochter verlor ich meine völlig gesunden oberen 3 Schneidezähne. Diese wackelten und ließen sich nicht mehr ins Zahnfleisch einbetten. Um einen Abbruch der Zähne beim Obstessen oder ähnliches und die daraus folgenden viel komplizierteren Nachbehandlungen zu vermeiden, wurden diese extrahiert. Der Zahnarzt gab als Ursache die beiden hintereinander erfolgten Schwangerschaften und Geburten sowie eine grundlegende Stoffwechselerkrankung an, der ich doch auf den Grund gehen sollte. Ich war 24 Jahre alt, hatte einen Sohn, der stark entwicklungsverzögert war und eine neugeborene Tochter. Ich hatte gar keine Zeit über das Gesagte nachzudenken. Heute denke ich oft daran zurück.

Bei mehreren nachfolgenden kleineren Operation – drei an der Anzahl gab es jedes Mal bei der Narkose Schwierigkeiten, die Ärzte schüttelten jedes Mal den Kopf und fragten mich nach Medikamentenunverträglichkeiten. Die konnte ich aber zu diesem Zeitpunkt nicht bestätigen.

Die Wundheilungen nach diesen operativen Eingriffen (Krampfadern ziehen, Eileitertrennung, Abrasio) zogen sich immer unverständlich in die Länge, der Atemapparat wurde nach diesen mit Vollnarkosen einhergehenden operativen Eingriffen immer anfälliger.

Ich wurde sehr lärmempfindlich, das begann schon frühzeitig Ende der 80er Jahre. Ich hasste das Geräusch des Staubsaugers, konnte die Bohrmaschine nicht leiden und war insgesamt sehr schreckhaft, wenn Geräusche auf mich einstürmten. Heute weiß ich, dass eine Hyperakusis auch zur Myasthenie gehören kann. Heute.

Ab 2003 wurden dann vielfältige Symptome sichtbar, die verschiedene Ärzte behandelten.

Es begann mit der Reflux-Krankheit, ich schlief da schon in enorm erhöhter Position, verschluckte mich häufig und litt oft unter einer Bronchitis. Das beruhigte sich unter hausärztlicher Kontrolle. Meine Hausärztin ist in erster Linie eine sehr gute Internistin.

2004 schmiss ich frustriert unsere Matratzen des Ehebettes raus, weil ich morgens ständig mit extremen Rückenschmerzen aufstand. Nur um festzustellen, dass dieser Zustand sich mit den neuen Matratzen nicht verbesserte.

Im Sommer 2004 wollte ich im Garten nur ein wenig Petersilie ernten, die ich für das Würzen eines Eintopfes brauchte. Das Bücken gelang mir noch, aber nicht das Aufrichten. Mit Tränen in den Augen erreichte ich meine Wohnung und die Hausärztin musste mich mit Spritzen wieder aufrichten und zu einem Menschen machen. Daran hatte ich lange zu kauen.

In diesem tollen Sommer war meine Familie an der Ostsee zelten und ich hatte das erste Mal große Mühe mich aus dem Zelt von der Luftmatratze zu erheben. Ich war fast unfähig, aus dem Zelt zu krabbeln und mich zu erheben. Die Oberschenkelmuskulatur versagte mir komplett den Dienst. Insgeheim dachte ich bei mir, so fühlt es sich an, wenn man alt wird.

2005 konnte ich nach einem Sturz meine beiden Arme nicht mehr über Augenhöhe erheben. Der  Chirurg konnte keine organischen Schäden feststellen, spritzte mich über einen Zeitraum von fast 2 Jahren gesund.

Autofahren war zu diesem Zeitpunkt die Hölle. Und ich musste beruflich täglich 230 km fahren. Beim Einsteigen und Aussteigen machte der Rücken Probleme, beim Schalten die rechte Schulter, jeder Gangwechsel trieb mir vor Schmerz die Tränen in die Augen.

2005 und 2006 wurde ich nach den Grippeimpfungen von mehreren Erkältungen nicht verschont. Die Erholung dauerte immer lange, die Hausärztin vermutete damals schon irgendwelche immunologische Probleme, die ich mal abklären lassen sollte, überwies mich zu einem Pulmologen, weil die Atemprobleme stärker wurden.

Dieser stellte dann die Diagnose auf Asthma. Das erschütterte mich dann doch tiefgreifend.

Ich hatte aber gerade in jener Zeit beruflich viel Erfolg, wollte mich weiter entwickeln, zumal die Kinder inzwischen groß waren, immer mehr ihre eigenen Wege gingen.

Den Rat meiner Hausärztin auf gründliche Untersuchung schlug ich in den Wind, wieder einmal.

Mit den guten Medikamenten in der Asthma-Therapie verbesserten sich die Atemprobleme und ich dachte, ich habe alles im Griff.

Ich dachte.

2006 merkte ich dann, dass ich immer öfter Doppelbilder habe, die Besuche beim Optiker häuften sich. Meine Mitarbeiter fragten mich, warum ich immer so ernst schauen würde. Zu diesem Zeitpunkt wunderte ich mich über diese Fragen, weil ich eine lustige, lebensfrohe Person bin und ich nicht verstehen konnte, dass mein Lächeln nicht mehr ankam, da es nicht mehr auf meinem Gesicht abgebildet wurde.

Ich merkte sehr wohl eine große Erschöpfung, schob es auf Job und Fahrerei zwischen Wohnung und Arbeitsstätte.

Zu Hause häuften sich die Tage, an denen mein Mann mich nicht verstand, er bemerkte, dass ich nuscheln würde. Ich war aufgebracht, ich gab mir solche Mühe deutlich zu sprechen und er verstand mich nicht. Erst als meine Tochter, die beidseitig Hörgeräte trägt, sich beschwerte, dass sie mir nicht mehr vom Mund ablesen könnte, merkte ich, dass hier was nicht stimmt. Ich konnte also auch meine Lippen nicht mehr so formen, wie ich wollte.

Hinzu kam, dass ich seit 2006 bei Wanderungen oder Spaziergängen einfach mal so das Gleichgewicht verlor und aus mir nicht ersichtlichem Grund zu Boden ging. Es war mir immer peinlich und auch unangenehm und seit dieser Zeit hatte ich in der Familie auch immer einen Touch von Tolpatschigkeit. Dieser verstärkte sich noch, da ich mich seit 2007 immer mal wieder am Essen verschluckte. Ohne ersichtlichen Grund. Ich ertappte mich dabei, kaum eine Essen, vor allem flüssige Speise, ohne Kleckern zu mir nehmen zu können, da konnte ich mir Mühe geben, so viel ich wollte. Ich aß schon länger nicht mehr mit Messer und Gabel, ließ das Messer immer öfter weg. Ich hatte und habe sichtlich Probleme, das Essen koordiniert zum Mund zu führen, ohne, dass etwas daneben ging.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich schüttelte oft den Kopf und lebte nach dem Motto: Ist von allein gekommen, wird auch von allein wieder gehen.

Ich veränderte mich beruflich, damit ich der Schichtarbeit und der langen Arbeitswege entgehen konnte, denen ich indirekt die Schuld an meiner Erschöpfung und an meinen vielen kleinen Zipperlein gab.

Aber es wurde nicht besser. Mehrfach versagte mir jetzt bei Erkältungen die Stimme komplett mehrere Tage und ich wusste nicht, ob ich wieder sprechen konnte. Die Atmung gestaltete sich auch immer schwieriger und in 2007/2008 hatte ich Phasen, in denen Wortfindungsstörungen mich an den Rand der Verzweiflung brachten.

Mir gelang es nicht, mich zu konzentrieren, ich wurde empfindlich und hatte eine Menge meiner Power verloren. Kurzzeitig hatte ich das Gefühl, dass mein Körper aussteigt, aussteigt aus allem, es gab nichts, was mir nicht wehtat. Die sonst normalen körperlichen Anstrengungen brachten mich an den Rand der Erschöpfung, ich schlief zu den unmöglichsten Zeiten und immer war dieser Schlaf nicht erholsam.

2008 im Frühjahr hatte ich dann die Zeit zur Untersuchung bei meiner Hausärztin, die dann eine extreme Schilddrüsen-Unterfunktion diagnostizierte, Hashimoto dazu. Der Beginn der Hormontherapie mit Schilddrüsenpräparaten brachte mich fast an den Rand der Bewegungsunfähigkeit. Im Juni/Juli 2008 bestätigte sich auf einer neurologischen Station ihr Verdacht auf Myasthenie. Im September 2008 wurde mir ein Thymom operativ entfernt, danach rutschte ich 20009 im März/April in eine myasthene Krise, die intensivmedizinisch mit 3 Immunadsorptionen und 6 Plasmapheresen behandelt wurden. Das Krankenhaus verließ ich mit einem Heimbeatmungsgerät und jetzt im Januar 2010 bin ich immer noch erheblich in meiner Bewegung und meinem Tagesablauf eingeschränkt.

Eine lange Geschichte, das Wort Myasthenia gravis habe ich im Juli 2008 zum ersten Mal in meinem Leben gehört.

Ich habe oft den Rat der Ärzte ignoriert, wollte mich nicht stellen, wollte auch nicht meine Arbeit verlieren.

Ich frage mich oft, habe ich die Krankheit erworben, ist sie vererbt, kann ich sie vererben.

Meine Neurologin konnte mir diese Fragen noch nicht beantworten. Die genaue Diagnosestellung ist wohl bei seronegativen Myasthenikern nicht so einfach.

Aber dazu später mal mehr.